Kapitel 2

1617 Words
Eine Woche nach ihrem letzten Besuch kommt Miss Jones wieder.  „Ich habe Neuigkeiten für dich. In deinem Fall wurde eine Entscheidung getroffen." Sie legt eine dramatische Pause ein, in der sie sich in aller Ruhe auf einen Stuhl neben Avery's Bett setzt. Genervt von dieser schauspielerischen Einlage verdreht Avery ihre Augen und schaut sie erwartungsvoll an, als ob sie sich so einfach beeinflussen lassen würde, Miss Jones sollte sie inzwischen besser kennen. „Ja und? Was ist jetzt? Kann ich endlich zurück? Ich muss trainieren!" Miss Jones starrt sie erst nur verwirrt an, sagt dann aber:  „Nein! Du wirst nie wieder dorthin zurückgehen. Das Gericht hat beschlossen, dass du zu einer Pflegefamilie geschickt wirst. Deine Eltern dürfen dir nicht näher als 200 Meter kommen, richterliche Verfügung." Avery keucht geschockt auf, sie hätte niemals damit gerechnet, dass sie wirklich von ihrer Familie und ihrer Arbeit getrennt werden würde. Bevor Avery widersprechen kann redet Miss Jones auch schon weiter, „Wir haben auch schon eine Familie für dich gefunden, sie werden morgen zu Besuch kommen und bis du nächste Woche entlassen wirst, wird dein Zimmer dort auch schon fertig sein." Das war zu viel Information auf einmal für Avery und sie starrt Miss Jones nur mit großen Augen an. Als sie begreift, was gerade passiert ist meint sie wütend: „Werde ich denn nicht gefragt, was ich will? Es ist immer noch mein Leben! Sie können so etwas doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg entscheiden!" Avery würde am liebsten noch weitaus mehr sagen und richtig Dampf ablassen aber sie weiß, dass egal was sie sagen würde, es würde nichts ändern. Miss Jones kann sie nicht überzeugen, egal was sie sagt. Miss Jones antwortet nicht sondern schaut sie nur mit einem Blick an, der so viel sagt wie: ‚da kannst du jetzt auch nichts mehr dran ändern'. Als ob Avery das nicht wusste. Avery seufzt wütend und verzieht sofort ihr Gesicht weil ihre Rippen wieder schmerzen, Miss Jones schenkt sie keine weitere Beachtung. Nach mehreren Versuchen mit Avery über ihr zukünftiges Leben zu reden verlässt Miss Jones kopfschüttelnd das Zimmer. Am nächsten Tag wartet Avery ungeduldig auf das Eintreffen ihrer 'neuen Familie'. Was wenn sie strenggläubige sind, die alles mit Gottes Wille begründen? Wieso sollte Gott Krieg und Verderben wollen?  Oder was wenn es Hippies sind? Avery kann sich einfach nicht vorstellen, was sie wohl erwartet. Es scheint ihr eher unwahrscheinlich, dass ein Soldat in der Familie ist oder eben jemand der ihre Situation nachvollziehen kann. Es hat ihr schon gereicht, dass Miss Jones meinte zu wissen, was gut für sie sei. Sicher hatten sie eine Familie ausgesucht, die genauso wie Miss Jones, und anscheinend auch der Richter, davon überzeugt ist, dass Averys Leben furchtbar war und wollen ihr zeigen, wie ach so toll es doch ist ein stinknormales Leben zu führen.  Als das Frühstück gebracht wird sieht sie schon gespannt zur Tür und lehnt sich dann enttäuscht wieder zurück, als sie bemerkt, dass es nur eine Schwester ist. Avery hat im Moment keinen Hunger, an Essen kann sie gerade nicht mal denken, ihre Gedanken schweifen immer zurück zu dieser Familie und vor lauter Nervosität wird ihr schon ganz warm.   Als eine Stunde später die Schwester wieder kommt, hatte sie das Essen nicht angerührt. Sie betritt den Raum allerdings nicht allein, nach ihr betritt eine klassischen kleinen Familie den Raum. Ein Mann mit braunen Haaren und einem uninteressierten Blick in seinen ebenso braunen Augen. Dazu eine Frau mit perfekt gestylten roten Locken und grünen warmherzigen Augen, die Avery sofort als sie sie sieht freundlich anlächelt. Zum Schluss ein Junge in ungefähr ihrem Alter mit braunen Augen und braunen Haaren, die er wohl von seinem Vater hat, und einem leichten Lächeln im Gesicht, welches wohl eher von seiner Mutter kommt, denn ob dieser Mann überhaupt weiß wie man lächelt glaubt Avery nicht. „Du musst doch was essen Kindchen!" ruft die Schwester empört als sie den nicht angerührten Teller sieht. Alles was Avery dazu sagt ist, sie hätte eben keinen Hunger, so war es schließlich auch. Der Mann setzt sich sofort auf den Stuhl, der in einer Ecke steht und holt sein Handy aus der Jackentasche, von welchem er nicht so schnell wieder aufsieht. Der Junge dagegen tritt nervös von einem Fuß auf den anderen, seinen Blick hält er die ganze Zeit auf den Boden vor seinen Füßen gerichtet.  „Also, peinliche Stille. Ich bin Avery und ihr Verhalten lässt darauf schließen, dass sie denken ich wäre das hilflose Opfer. Also um eins klar zu stellen, wenn ich könnte würde ich sofort zurück zur Army gehen und trainieren, also fangen sie gar nicht erst an auf mich ein zu quatschen, wie toll mein Leben bei ihnen sein wird!" Erschrocken starren sie alle drei an. Die Gesichtsmuskeln des Mannes sind also doch nicht erstarrt, denkt sich Avery verächtlich.  „Du hast alle diese Narben nur wegen deinen Eltern, wenn es stimmt, dass diese Narben von Folter stammen! Das sind höllische Schmerzen die du durchgemacht hast, nur ihret wegen! Wie kannst du dorthin zurück gehen wollen?" der Junge sieht sie nur verstört an. Mit diesem plötzlichen Ausbruch hatte Avery nicht gerechnet, schon gar nicht von ihm, der eben noch völlig hilflos in der Gegend herum gestanden hatte. Vor allem war sie aber empört, dass er meint zu wissen, wie ihr Leben aussieht und was sie will. „Wie wäre es wenn, du mir erst einmal sagst, wer du bist, damit du so über mich Bescheid weißt, oder zumindest denkst, dass es so wäre. Du weißt überhaupt nichts über mich, du hast keine Ahnung, wie sowas ist. Du bist ein Niemand." Sie redet sich immer mehr in Rage und hält mal wieder schmerzvoll die Luft an, als sie durch ein scharfes Stechen wieder an ihre Verletzung erinnert wird. Die rothaarige Frau macht ein paar vorsichtige Schritte auf Avery zu und hebt beschwichtigend die Hände. „Das ist mein Sohn Mason," -sie deutet auf den Jungen- „ich bin Margret und das" -diesmal deutet sie auf den Mann in der Ecke, der sich schon wieder seinem Handy zugewandt hat- „ist Steve, wir sind die Hobbs. Vielleicht weißt du es ja nicht, aber wir wurden über deine Situation aufgeklärt. Entschuldige Masons forsche Art, wir wollen nur das Beste für dich." Als Margret mit ihrer Mini-Ansprache fertig ist, schaut sie hoffnungsvoll zu Avery, welche ihren Blick wütend erwidert. Genau wie sie erwartet hatte, diese Familie lebt in einer rosaroten, heilen Welt, in der alles perfekt läuft. „Ähm okay, wow!", antwortet Avery, „Ich weiß selber am besten was ich will, glaubt mir! Ich bin mit all dem aufgewachsen." Mason beißt sich frustriert auf die Unterlippe. „Und jetzt denkt ihr ich hätte Rabeneltern! Es war meine Entscheidung, die Ausbildung anzufangen. Vielleicht solltet ihr einfach mal eure verdammten Vorurteile ablegen, es ist nicht immer alles schwarz und weiß. Also, können wir das Thema jetzt beiseitelassen?"  „Äh, ja klar. Also wie gesagt ich bin Margret Hobbs wenn du willst kannst du mich Margret oder Miss Hobbs oder wenn du willst auch Mom nennen, das überlasse ich dir." unsicher streicht sie sich eine ihrer Locken hinters Ohr und spricht dann weiter. „Uns wurde gesagt, dass du nächste Woche entlassen wirst, wir wollten dich heute nur schon mal kennen lernen. Uns wurde auch gesagt, wir sollen dich so behandeln wie auch Mason" -dabei wendet sie endlich den Blick kurz von Avery ab und sieht zu Mason- „also wenn du nach der Schule noch irgendwo hin gehst, dann wollen wir wissen wohin, ab 22 Uhr bist du Zuhause und du darfst natürlich nicht in Kontakt mit irgendjemand von der Army treten. Ist soweit alles klar?" unsicher knetet sie ihre Finger und sieht Avery an, ihr schien tatsächlich wichtig zu sein, dass Avery sich willkommen und wohl bei ihnen fühlt. Jedoch frustrieren all diese Regeln Avery nur noch mehr. „Ich darf ihnen nicht mal eine E-Mail schreiben? Ich meine sie sind meine einzigen Freunde und außer ihnen kenne ich niemanden. Was, wenn ich mit jemandem reden will?" hoffnungsvoll sieht sie Margret an.  „Nein tut mir leid, kein Kontakt erlaubt. Wenn du mit jemandem reden willst dann kannst du mit uns oder deiner Therapeutin reden." Hat Avery gerade richtig gehört?  „Moment was? Was für eine Therapeutin? Ich brauche keinen Psychodok! Mir gehts gut!" wütend ballt sie ihre Hände zu Fäusten. Das hatte mit Sicherheit diese Miss Jones angeleiert. „Ich dachte man hätte dir davon erzählt, es tut mir leid, dass ich dich jetzt einfach so ins kalte Wasser geworfen habe. Es wurde entschieden, dass du für dein Alter sehr viel durch gemacht hast und bestimmt eine Außenstehende brauchst, die dir hilft. Du wirst vorerst einmal die Woche zu ihr gehen, sobald sie sagt dir geht es gut, musst du sie nicht mehr besuchen." Es hat Avery gerade noch gefehlt, dass sie für verrückt gehalten wird.  Erschöpft legt sie ihren Kopf zurück auf das weiße Kopfkissen und schließt für einen Moment ihre Augen. Wie sehr wünschte sie sich, sie wäre nicht in dieses Taxi gestiegen, dann wäre sie gerade dabei mit Mike, James und Beth am Boxsack zu trainieren, ein Wettrennen mit einem von ihnen zu veranstalten oder auf dem Schießstand ihre Schießkünste zu verbessern und anschließend würde die gesamte Einheit den Neuankömmlingen zusehen, wie sie sich durch die verschiedenen Trainingsparcours quälen. Doch stattdessen liegt sie nun hier und muss sich mit diesen Leuten herumschlagen. Avery hofft inständig, dass sie bald einen Weg finden wird, wie sie doch wieder zurück kommt. Nachdem die Familie Hobbs endlich wieder gegangen ist, kommt erneut die Krankenschwester und zwingt sie dazu, etwas zu essen. Mehr als drei Löffel der schrecklichen Gemüsesuppe bringt Avery allerdings nicht runter.
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